Anna (62): „Ich hatte Angst um meinen Vater“
Als ich acht Jahre alt war, starb mein Großvater an Leberzirrhose. Mein Vater übernahm sein Geschäft, um meine Großmutter und alle Angestellten finanziell abzusichern. Eine schwere Entscheidung, denn für unsere Familie änderte sich auf einen Schlag alles. Meine Mutter, bisher Hausfrau, stand nun ganztags im Geschäft, und mein Vater kam kaum noch aus der Zweirad-Werkstatt raus.
Beide Eltern arbeiteten rund um die Uhr, um den verschuldeten Betrieb aufzubauen. Um zu sparen, lebten wir ab sofort in einem Haus mit meiner Großmutter. Die Verantwortung, kaum Freizeit und das Zusammenleben mit der Oma, die jahrelang neben ihrem Mann den Betrieb eigenständig über Wasser gehalten und dabei sehr verbittert und dominant geworden war, belasteten die ganze Familie. Jahre später hatten meine Eltern einen florierenden Betrieb geschaffen und waren finanziell gut aufgestellt – aber um welchen Preis? Mein Vater hatte angefangen zu trinken.
Immer öfter einen über den Durst ...
Meine Schwester und ich merkten es anfangs nur daran, dass er an den Wochenenden ziemlich oft einen über den Durst trank. Irgendwann passierte das dann auch immer öfter in der Woche. Als ich 16 Jahre alt war, wurde es richtig schlimm. Damals half ich gerne im Laden. Aber wenn Kunden uns mit einem süffisanten Lächeln erzählten, sie hätten meinen Vater gerade vor einer nahegelegenen Gaststätte gesehen, war ich traurig und schämte mich auch. Ich war alt genug zu verstehen, dass sein Verhalten nicht normal war und auch das Geschäft schädigte. Zudem war mein Vater immer öfter unterwegs, und die Arbeit in der Werkstatt blieb dann liegen. Er wurde im Laufe des Tages oft ungeduldig und dann auch unfreundlich zu unseren Kunden. Manche Ausrede brauchten wir, um zu erklären, warum zugesagte Reparaturen nicht fertig waren.
Längst brachten meine Schwester und ich auch keine Freunde mehr mit nach Hause. Wir konnten ja nicht mehr einschätzen, wie mein Vater sich benehmen würde. Verwandte zogen sich zurück, Freunde meiner Eltern gab es nur noch wenige. Ich fragte mich, wie wir alle das aushalten sollten. Nie wussten wir, was der Tag brachte. War mein Vater gut oder schlecht gelaunt? Wie reagierte er auf Alltagssituationen? Das Geschäft brachte irgendwann nicht mehr die nötigen Einnahmen.
Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt
Meinen Vater schien es nicht zu berühren – er kümmerte sich um nichts. Auch meine Mutter unternahm nichts, sie sah keinen Ausweg und keine Chance, etwas zu verändern. Dabei waren wir alle finanziell davon abhängig, dass das Geschäft weiterlief und alle funktionierten – auch meine Großmutter. Wir wussten, dass mein Vater krank war, aber wir wussten nicht, wo wir Hilfe finden konnten. Mit ihm selbst konnten wir über seine Sucht nicht reden! Zeitweise war er himmelhoch jauchzend, und dann wieder zu Tode betrübt.
Meine Schwester hasste meinen Vater für sein Verhalten
Meine Schwester hielt es nicht mehr aus. Sie suchte sich eine Ausbildungsstelle in einer anderen Stadt und kam in den folgenden Jahren nur noch selten nach Hause. Ich glaube, sie hasste meinen Vater für sein Verhalten. Und ich hatte Angst um ihn. Immer wieder fuhr er angetrunken mit seinem schnellen Auto durch die Gegend. Und wenn ich im Wagen saß, hatte ich Todesangst bei waghalsigen Überholmanövern. Noch heute bin ich sehr ängstlich, wenn ich nicht selbst am Steuer sitze. Mein Sohn nennt mich „die schlechteste Beifahrerin der Welt“. Und noch etwas ist aus dieser Zeit geblieben: Wenn alles aus meiner Sicht zu gut läuft im Leben, kann ich es nicht uneingeschränkt genießen. Ich habe Angst, dass Situationen sich schlagartig verändern und gute Zeiten nicht von Dauer sind.
Der richtige Moment zum Aufhören
Als ich 21 Jahre alt war, hatte meine Großmutter einen schweren Schlaganfall und starb wenige Monate später. In dieser Zeit ging es mit meinem Vater richtig bergab. Eines Tages, meine Mutter war für zwei Tage verreist, bekam er einen Nervenzusammenbruch. In meiner Not rief ich unseren Hausarzt an und seinem schnellen Handeln ist es wohl zu verdanken, dass sich von einem Moment auf den anderen alles zum Guten änderte. Er brachte meinen Vater spätabends persönlich in die Klinik. Im Anschluss an den Aufenthalt dort folgte direkt eine Therapie. Es muss für meinen Vater der richtige Moment gewesen sein, um festzustellen, dass es so nicht weitergehen konnte. Meine Eltern gingen von da ab in eine Selbsthilfegruppe und mein Vater schaffte den Weg aus der Sucht. Er lebte bis zu seinem Tode über 30 Jahre abstinent. Später ließ er sich als Suchtkrankenhelfer ausbilden und half vielen anderen Betroffenen, den Weg aus der Sucht zu finden.
Oft frage ich mich, wie viel leichter unser Leben verlaufen wäre, wenn wir viel früher Hilfe erfahren hätten. Meine Mutter sagte immer: „Eine Familie muss zusammenhalten. Und das geht niemanden etwas an!“ So ist viel Zeit vergangen, die wir nie nachholen konnten.
Er hat es geschafft, den Kreislauf zu durchbrechen
Wir wussten damals nicht, dass unser Verhalten wenig Einfluss auf sein Trinken nehmen konnte und dass nur mein Vater verantwortlich für sein Suchtverhalten war. Wir dachten: Wenn wir zu ihm halten, wird irgendwann alles gut. Damit ließen wir ihn in seiner Komfortzone. Warum hätte er etwas ändern sollen? Später war klar: Nur er selbst konnte sich entscheiden, Hilfe anzunehmen. Und das hat er getan. Ich bin sehr stolz auf ihn! Er hat es geschafft, den Kreislauf zu durchbrechen.
Heute weiß ich, dass wir mit der richtigen Beratung und der Unterstützung einer Selbsthilfegruppe viel früher gewusst hätten, worauf es für Betroffene und Angehörige wirklich ankommt. Und wir hätten früher erkannt, dass wir nicht die Einzigen waren, die so etwas erlebten. Unser Verhalten war oft von Sorge und Scham geprägt: Wir wollten meinem Vater nicht in den Rücken fallen, ihn nicht verraten. Ein offener Umgang mit seiner Sucht, ein klares Ansprechen der Probleme und professionelle Hilfe hätten uns Jahre früher helfen können.
Später haben wir erleben dürfen, wie sehr Selbsthilfegruppen unterstützen. Ich bin froh, dass ich heute innerhalb des Deutschen Frauenbundes für alkoholfreie Kultur anderen angehörigen Frauen Mut machen kann, sich selbst zu verändern, Sucht nicht zu unterstützen und damit für alle Familienangehörigen, besonders auch für die Kinder, den Weg in eine glücklichere Lebensphase zu gehen.