Annegret (62): „Die Magersucht unserer Tochter bestimmte unser Leben“

Ich erinnere mit genau an das Gefühl der Ohnmacht, die mich befiel, als ich die Situation erkannte: Meine Tochter hatte sich über Monate verändert. Ich spürte, dass ihr Verhalten nicht normal war. Nicht nur ihr Essverhalten, vieles veränderte sich total. Plötzlich verbot sie sich Lebensmittel, die sie zuvor geliebt hatte. Alles musste vegetarisch sein, bei jedem Essen wurden Kalorien gezählt. Sie stand stundenlang vor dem Spiegel, betrachtete ihre Figur. Sie war nicht dick – ein ganz normaler Teenager im Alter von 15 Jahren. Zumindest aus meiner Sicht. Aber sie fand sich plötzlich hässlich, sah Fettpolster, wo gar keine waren.

Sie begann, weite Kleidung zu tragen. Ein Besuch im Schwimmbad war nicht mehr möglich, sogar im Urlaub am Mittelmeer trug sie am Strand Shirt und Hose, weil sie sich zu dick fühlte. Von Selbstbewusstsein keine Spur, sie sorgte sich um das, was andere denken und sagen könnten. Für andere setzte sie sich ein, aber nicht für sich selbst.

Oftmals rief sie mich, weil ich sie betrachten und nicht erkennbare Fettpolster bestätigen sollte. Dann begann ich stundenlang auf sie einzureden, dass sie sich das bloß einbilde und sie doch eine ganz normale Figur habe. Ich versuchte, sie abzulenken. Ich appellierte an ihre Vernunft – ohne Erfolg. Sie sah in den Spiegel und sah ein fettes Mädchen; ich dagegen sah ein immer dünner werdendes Mädchen über Monate vorm Spiegel stehen.

„Sie hatte eine verzerrte Wahrnehmung vom eigenen Körper“

Essstörung - Frau mit Apfel in der Hand

Wenn wir unterwegs waren, zeigte sie mir Mädchen, die bedeutend mehr auf die Waage brachten als sie und kommentierte das mit den Worten: „Wenn ich so schlank bin wie sie, werde ich nicht mehr auf mein Gewicht achten müssen“. Sie konnte nicht mehr einordnen, was sie sah, hatte eine verzerrte Wahrnehmung vom eigenen Körper.

Das wirkte sich immer negativer auf ihr Verhalten aus. Ich war so besorgt, weil ich das vor Jahren schon einmal bei einer Cousine erlebt hatte, die diese Krankheit nur knapp überlebte.

Als sie 16 Jahre alt war, nahmen wir im Rahmen eines Schüleraustauschs ein Mädchen aus Skandinavien bei uns auf. Die Mädchen verstanden sich offenbar gut, und wir hatten nichts dagegen, dass unsere Tochter einige Monate später den Gegenbesuch antrat. Wir waren sogar sehr froh, dass sie überhaupt teilnahm. Denn zwischenzeitlich hatte sie nach der Schule kaum noch Kontakt mit ihren Freundinnen. Da die Familie, die sie aufnahm, weit von der Schule entfernt und außerhalb des Ortes wohnte, mussten die beiden Mädchen jeden Tag einen langen Weg durch den Schnee zurücklegen. Das war anstrengend und verbrauchte viele Kalorien. Und da sie das Essen dort nicht mochte, nahm sie nur wenig zu sich. Als sie zurückkam, hatte sie viel abgenommen und war überzeugt, schon immer viel zu viel gegessen zu haben. Von nun an reduzierte sie ihr Essen noch mehr, trank oft nur noch Tee oder Wasser. Ihre feste Nahrung bestand aus Gurke oder ähnlichen Lebensmitteln.

Freundinnen kamen immer seltener vorbei. Und sie ging nicht mehr weg. Unsere Tochter erklärte das mit den großen Anforderungen der Schule.

Die Zeit verging, nichts änderte sich. Wenn ich mit meinem Mann darüber sprechen wollte, blockte er ab. Er fand es normal, dass ein Mädchen auf die Figur achtete, eine Diät ausprobierte und schlank sein wollte. Teenager testen aus seiner Sicht doch immer mal Diäten aus. Und wenn tatsächlich ein Problem da war – was hatte ich denn bloß gemacht, dass sie so war? Ich konnte es nicht fassen. Keine Unterstützung, aber Schuldzuweisungen. Ich fühlte mich von ihm total alleingelassen.

„Meine Angst um sie wuchs von Tag zu Tag“

Unsere Tochter reduzierte die Aufnahme von Kalorien immer wieder aufs Neue, und wir fühlten uns machtlos. Sie konnte den Kaloriengehalt einer Mahlzeit jederzeit genau bestimmen, tauschte beim Einkauf noch im Supermarkt Produkte aus, wenn sie welche erspähte, die noch weniger Kalorien hatten. Und im Laufe der Zeit ging sie dazu über, auch Artikel, die ich in den Einkaufswagen legte, wieder ins Regal zu stellen, weil wir sie ihrer Meinung nach nicht brauchten. Einkaufengehen wurde eine Qual, jeder Einkauf dauerte endlos. Manchmal hielten wir uns zwei bis drei Stunden im Supermarkt auf, um dann mit wenig Joghurt, Gurke und anderen kalorienarmen Produkten nach Hause zu fahren. Ich war genervt, trotzdem machte ich alles mit. Denn nach vielen angstbesessenen Monaten war ich dankbar, wenn sie überhaupt etwas fand, das sie essen wollte. Meine Angst um sie wuchs von Tag zu Tag.

Trotz allem brachte sie nur beste Noten mit nach Hause. Nach außen hin schien alles perfekt: aus dem Umfeld bekam sie viel Lob für ihre tolle Figur. Sie genoss es. Und ich stand da wie ein Spielverderber, der es ihr nicht gönnte. Und je mehr Bestätigung sie bekam, desto mehr spornte es sie an, noch mehr abzunehmen. Sie wurde schwächer. Sie nahm plötzlich den Bus zur Schule, nicht mehr das Fahrrad. Und das, obwohl sie doch jede sportliche Betätigung über Monate gesucht hatte.

Ich überredete meine Tochter zu einem Arztbesuch und hoffte auf Unterstützung. Aber das ging richtig schief. Der Arzt fand, sie sei doch sehr hübsch, so schlank. Und er gratulierte mir, dass ich eine so ernährungsbewusste Tochter hatte. Ich vergesse nie ihren Blick, als wir aus der Praxis kamen. Diese Genugtuung, aber auch Verachtung, denn nun war für sie alles klar: Ich hatte offenbar die falsche Einschätzung. Sie fühlte sich total bestätigt. Kontrolle wurde immer mehr zum Problem. Sie legte fest, was wann erledigt werden sollte – und sie wich von diesen einmal erstellten Plänen nicht mehr ab. Sie zog sich immer mehr zurück, blieb stundenlang allein in ihrem Zimmer. Wenn doch einmal eine Freundin anrief, musste ich sagen, sie sei nicht da – und ich machte wieder einmal mit. Denn ich dachte: Wenn ich genug Verständnis aufbringe, wird alles gut.

„Heute weiß ich: Eine Mutter sollte nicht den Platz der besten Freundin einnehmen“

Vor ihrer Erkrankung waren wir beste Freundinnen. Unsere Tochter war fröhlich, es gab überhaupt keine Probleme. Wenn ich heute höre, dass Mutter und Tochter beste Freundinnen sind, gehen bei mir alle Alarmglocken an. Aber damals war ich so stolz darauf, dass wir alles miteinander besprechen konnten. Damals! Heute weiß ich, eine Mutter sollte nicht den Platz einer besten Freundin einnehmen. Mutter und Tochter – diese Struktur war damals im wahrsten Sinne des Wortes verrückt. So wie Einiges mehr in unserer Familie.

Unsere Ehe war nicht mehr glücklich, wir hatten nach einem Hauskauf viel abzubezahlen, und das Geld war knapp. Der Hauskauf hat uns kein Glück gebracht. Wir arbeiteten beide, mein Mann hatte sogar eine zweite Arbeitsstelle, war kaputt, wenn er einmal frei hatte. An den Wochenenden unternahm ich mit den Kindern fast immer etwas allein. Meistens entschied unsere Tochter darüber, was wir machten. Und ich war froh, dann wenigstens Zeit mit beiden Kindern verbringen zu können. Unser Sohn – damals elf Jahre alt – war angepasst und still geworden. Ich denke, er wollte uns nicht auch noch Sorgen machen. Und wir waren so auf unsere Tochter fixiert, dass wir ihn vollkommen aus den Augen verloren.  Mein Mann und ich lebten uns auseinander. Unser aller Leben wurde durch die Magersucht unserer Tochter bestimmt. Es war ein Teufelskreis, aus dem wir allein nicht mehr herauskamen.

Unsere Tochter kontrollierte inzwischen fast alles.  Sie hatte an allen und allem etwas auszusetzen, wurde immer unzufriedener und aggressiver. Sie, die immer freundlich gewesen war schrie wegen jeder Kleinigkeit rum, rastete völlig aus, wenn nicht alles in ihrem Sinne lief.  Sie stocherte nur noch im Essen rum, gemeinsame Mahlzeiten wurden zur Qual. Sie räumte überall im Haus Schränke um, weil sie eine andere Aufteilung sinnvoller fand. Und sie kontrollierte sogar nachts, dass wir nichts wieder veränderten. Wenn doch etwas am falschen Platz stand, bekam sie lautstarke Wutanfälle, mitten in der Nacht. Und wir hielten still, versuchten, mit dieser Situation umzugehen.

„Wir waren alle vollkommen fertig mit den Nerven“

So konnte es nicht weitergehen. Endlich suchte ich Hilfe. Und ich fand sie. Es gab einen Elternkreis in unserer Stadt. Dort fand ich Menschen, mit denen ich offen über alles sprechen konnte – über das, was passierte und auch über meine Ängste. Ich musste nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, denn alle Eltern hatten Ähnliches erlebt und verstanden die Situation auch ohne viele Worte. Und hier lernte ich, dass es unverzichtbar ist, Grenzen zu setzen und auch einzuhalten. Und ich lernte loszulassen – auch die Idee, dass es von meinem Verhalten abhängen würde, ob meine Tochter gesund würde. Dort, wo meine Tochter Grenzen übertrat, indem sie mein Leben einschränkte oder über mich zu bestimmen versuchte, wehrte ich mich nun. Und ich gab ihr Stück für Stück die Verantwortung für Dinge zurück, die sie selbst zu erledigen hatte. Meine Angst, dass sie dann ihr Essen völlig einstellen würde, wich langsam aus meinem Leben, sie hatte mich viel zu lange beherrscht.

Mit jedem kleinen Erfolg wurde ich mutiger, ich begann endlich, auch für mich zu sorgen. Meine Tochter hatte mir einmal vorgeworfen, doch auch nicht glücklich zu sein mit meinem Leben. Ich hatte das strikt von mir gewiesen, wohlwissend, dass sie Recht hatte. Und ich begann, etwas zu verändern, selbst das zu tun, was ich von meiner Tochter wollte: gut für mich zu sorgen.

Die Besuche im Elternkreis halfen mir, das ständige Auf und Ab in den folgenden Jahren zu überstehen. Es gab immer wieder schwierige Zeiten – die Magersucht hat ihre Spuren bei uns allen hinterlassen.

Unsere Tochter hat Jahre gebraucht gesund zu werden. Sie hat gelernt, schwierige Situationen nicht mit Hungern lösen zu wollen. Sie hat studiert, hat heute eine sehr gute Stelle, lebt mit ihrer Familie in einer anderen Stadt.  Sie wirkt Fremden gegenüber vielleicht ein bisschen distanziert, Abstand ist ihr nach wie vor wichtig.

 

„Ich habe gelernt, mich um mich zu kümmern“

Geblieben sind hin und wieder Schwierigkeiten im Umgang mit anderen, weil sie noch immer gerne Kontrolle ausüben möchte. So ist auch ihr Verhältnis zu ihrem Bruder noch immer sehr schwierig. Sicher auch, weil er in den vielen Jahren immer zurückstecken musste und darauf nun als Erwachsener wirklich keine Lust mehr hat.  Mit ein bisschen Glück findet vielleicht auch das ein gutes Ende- ich gebe die Hoffnung nicht auf. Und ich appelliere an alle Eltern, auch die Geschwisterkinder im Auge zu behalten. Sie brauchen uns genauso sehr wie die durch eine Krankheit betroffenen Kinder. Auch wenn sie so tun, als wäre alles in Ordnung.

Ich habe gelernt, mich um mich zu kümmern und darauf zu vertrauen, dass meine Kinder gut für sich selbst sorgen. Gibt es Probleme, können sie jederzeit mit meiner Hilfe rechnen, aber nicht darauf, dass ich ihre Probleme zu meinen mache. Das Verhältnis zu meiner Tochter ist gut, wir respektieren gegenseitig unsere Grenzen.  Jede von uns hat ihr eigenes Leben und es ist immer schön, voneinander hören.

Den Elternkreis besuche ich noch immer und unterstütze Eltern, die so betroffen und verzweifelt sind wie ich damals.  Mit der Gewissheit, dass viel Kraft in unseren Kindern steckt, sobald sie ihre Erkrankung überwunden haben, kann ich meine Erfahrungen weitergeben und anderen Eltern Mut machen, nicht aufzugeben. Jeder Mensch hat sein eigenes Tempo, Veränderungen anzugehen. In kleinen Schritten geht es auch voran!

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