Birgit (69): Ist meine Familie noch zu retten?

Essstörungen in unserer Familie? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Denn das gibt es doch nur in Familien, in denen etwas nicht stimmt, in denen die Kinder gar nicht oder falsch erzogen werden! Oder bei Personen, die irgendwie anders sind – Fotomodelle, Popstars oder Durchgeknallte.

Wir waren eine ganz normale Familie: Vater mit angesehenen Beruf, Mutter, die sich um Haushalt und die Erziehung der drei damals 11- ,14- und 16-jährigen Töchter kümmerte. Alles war gut geregelt, die Familienmitglieder mehr oder weniger gesund (der Vater hatte zu Anfang des Jahres einen Herzinfarkt, aber das hatte man im Griff), man wohnte im eigenen Haus und hatte keine wirtschaftliche Not. Eltern und Kinder waren in Schule, Beruf und Gesellschaft gut integriert. Anfallende Probleme innerhalb und außerhalb der Familie wurden intern und sozialverträglich gelöst. Rundum – alles bestens, so hätte es immer weitergehen können.

„Was ist mit eurer Tochter los?“

Und doch erreichten die Mutter besorgte Fragen: „Was ist mit eurer ältesten Tochter los? Warum hat sie in letzter Zeit so viel abgenommen?“ Ich hörte diese Bemerkungen auf dem Ohr „Mütterlicher Stolz“. Klar habe ich bemerkt, dass sie abgenommen hat, aber so schlimm war es ja nicht. Ein bisschen Babyspeck weg, kann nicht schaden. Ich war auch etwas stolz auf meine Tochter, dass sie so etwas schaffte. Diese Disziplin und das Durchhaltevermögen, das man zum Abnehmen braucht, nötigten mir einen gewissen Respekt vor meiner Tochter ab. Denn alle, die das Abnehmen schon einmal ausprobiert haben, wissen, wie schwer es ist durchzuhalten.

Meine Tochter war auch sichtlich stolz darauf, was ihr den Neid und die Bewunderung ihrer gleichaltrigen Freunde und Freundinnen einbrachte, zumal sie vorher keine Mannequinfigur hatte. Ich hatte den Eindruck, dass dies sie Selbstbewusstsein enorm stärkte – und außerdem war sie in der Schule so gut wie noch nie.

Befremdlich wurden in diesem Zusammenhang ihre Essgewohnheiten. Erst wurde etwas weggelassen, dann auf Fett oder Zucker geachtet, es wurde ausgerechnet, wie viel Kalorien drin sind. Letztlich bestand zwei Jahre lang jedes Mittagessen aus nicht mehr als einem halben Fladenbrot mit einer Tomate und einer Dose Pilze. Gleich nach dem Essen schwang sie sich aufs Fahrrad und strampelte sich kilometerweise ab. Denn weniger zu essen bringt nur in Verbindung mit Sport Gewichtsreduzierung. Ich freute mich, dass meine sonst so sportmuffelige Tochter aktiv wurde. Alles in Ordnung – wird sich mit der Zeit schon wieder einpendeln, dachte ich.

Sehr schnell aber stellte ich fest, dass das Essen weiter reduziert und der Sport exzessiver wurde. Auf meine Bedenken antwortete sie: „Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut. Siehste doch: Ich bin körperlich fit, sonst würde ich das gar nicht schaffen.“

Wie gern lässt man sich einlullen und glaubt dem Gehörten, obwohl bedenkliche Anzeichen schon zu sehen sind! Als das Ganze dann offensichtlich ausuferte und sich die ersten körperlichen Symptome (ständiges Frieren, blaue Fingernägel) zeigten, willigte sie ein, einen Internisten aufzusuchen. Seine Diagnose war: „Eine Essstörung kann ich ausschließen, das Kind isst ja jeden Tag, und außerdem müsste sie viel dünner sein, das muss andere Ursachen haben.“ Auch Frauenarzt, Herzspezialist und Internist machten die üblichen Tests. Es gab keine besonderen Befunde, die auf körperliche Ursachen schließen ließen. Nur zu gern wurde die ärztlich fundierte Diagnose angenommen – auch als Schutzschild gegen von außen kommende Bedenken.

„Ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich esse“

Ausschlaggebend für das Denken in eine andere Richtung waren dann Sätze von meiner Tochter wie: „Ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich esse.“ „Ich muss das Gegessene so schnell wie möglich wieder loswerden.“ „Ich verbiete mir bestimmte Lebensmittel.“ „Meine Gedanken kreisen den ganzen Tag nur um Essen und Lebensmittel.“

Mit diesen Äußerungen kam langsam der Gedanke ins Bewusstsein, dass es sich hier doch um eine Essstörung handelt – um „Anorexia nervosa“, was vom Internisten dann auch bestätigt wurde. Dieser Gedanke musste zugelassen werden, so schmerzlich und ungeheuerlich er auch war. Und damit auch die Fragen: Wie konnte das passieren? Welche Schuld trage ich bzw. tragen wir? Wie kann das wieder in Ordnung gebracht werden?

Wir hatten ein Problem, das es zu lösen galt. Natürlich weiß eine Mutter sofort, was zu tun ist: Nichts leichter als das, wir geben ihr jede ärztliche und therapeutische Unterstützung (was auch schnell von mir organisiert wurde) und dann werden wir das Problem schon in den Griff bekommen. Bedauerlicherweise bekamen wir nichts in den Griff. Das Gegenteil war der Fall: Mehr und mehr lief alles aus dem Ruder. Schleichend, aber immer unübersehbarer bestimmte die Essstörung unserer Tochter den Alltag der Familie. Sei es, dass die Geschwister genervt nach Hause kamen, weil sie mal wieder auf die immer dünner und elender aussehende Schwester angesprochen wurden.

Auch mir stellte man im Supermarkt die Frage, was wir denn mit dem Kind machten, ob sie zu Hause zu wenig zu essen bekomme? Obendrauf gleich noch die wertvollen Tipps gratis dazu geliefert: „Dann müsst ihr sie zum Essen zwingen! Koch doch mal ihr Lieblingsessen. Das müsste meine Tochter sein, der würde ich was erzählen ...“.  Hatte ich als Mutter versagt? Das Mittagessen verlief mal, laut mal schweigsam – immer wieder ging es darum, dass die Tochter mehr oder anderes essen sollte, was dann zum Tränenausbruch und Weglaufen vom Tisch führte und die Zurückgebliebenen in Schuldgefühle und weiteres Unverständnis stürzte.

In dieser Familiensituation war klar, dass die Geschwister noch mehr in den Hintergrund rückten. Immerhin war ein Kind der Familie krank und es bedurfte besonderer Aufmerksamkeit, Liebe und Fürsorge – und darauf hatten die anderen Geschwister gefälligst Rücksicht zu nehmen. Dies wurde von ihnen stillschweigend erwartet. Die Schonbehandlung der kranken Schwester seitens der Eltern wurden von ihnen sehr wohl registriert, was diese aber letztendlich nur nervte und dazu führte, dass man die Schwester für nicht ganz klar im Kopf befand. Besser wäre es, sie würde die Familie verlassen, damit endlich wieder normaler Alltag einkehren konnte.

„Wir brauchten Hilfe – woher und von wem auch immer“

Diese Situation konnte natürlich nicht aufgelöst werden – keiner hatte das Handwerkszeug dazu, und es gab auch keine Hilfe von außen. Was wir auch taten, organisierten, unternahmen, eine Besserung der Essstörung trat nicht ein. Die Erkenntnis, dass, wenn es so weitergeht wie bisher, die Möglichkeit besteht, dass dieses Kind an den Folgen der Essstörung stirbt und der Rest der Familie vor die Hunde geht, nahm immer mehr Raum ein. Das durfte nun nicht geschehen, denn es wäre ja das komplette Versagen der Eltern, der Familie, das wäre der Gau schlechthin. Also wurde alles darangesetzt, dies zu verhindern. Es wurde noch mehr Verständnis aufgebracht, wechselweise Rücksicht genommen, wahlweise Strenge und Drohungen eingesetzt, mit Versprechungen gearbeitet. Schleichend stellte sich ein gewisser Verschleiß und das Gefühl der Ohnmacht ein, sowie die Erkenntnis, dass wir es nicht alleine meistern konnten. Wir brauchten Hilfe, woher und von wem auch immer.

Die Erlösung kam, als die Tochter einem Klinikaufenthalt zustimmte. Endlich konnten wir sie und gleichzeitig auch unsere Sorgen, Ängste und Schuldgefühle abgeben. Wir wussten sie in guten fachlichen Händen. Die zu Hause Gebliebenen konnten endlich durchatmen. Der Alltag erlangte so etwas wie Normalität und Entspanntheit. Die beiden anderen Töchter wurden wieder mehr wahrgenommen und ihren Bedürfnissen Rechnung getragen. Wir konnten etwas ruhiger schlafen, die „Kranke“ war in sicheren, professionellen Händen, die im Ernstfall wussten, was sie zu tun hatten.

„Das Karussell drehte sich immer schneller“

Die Hoffnung, nach dem 14-wöchigen Klinikaufenthalt würde alles besser und der Alltag für alle erträglicher (schließlich hatte die Essgestörte ja gelernt, mit der Krankheit umzugehen), erwies sich als Trugschluss. Wieder zu Hause lief nach kurzer Zeit alles wie vorher. Es gab weitere erfolglose Versuche von Tochter und Eltern, die Essstörung in den Griff zu bekommen. Bei allen lagen die Nerven blank.

Ein Hilferuf der Tochter verstärkte alles noch: Sie versuchte, dem Druck durch überhöhte Tabletteneinnahme ein Ende zu machen. Daraus resultierte eine noch tiefere Co-Abhängigkeit, noch mehr Verständnis, noch mehr Zugeständnisse an die Krankheit. Alles wie gehabt und ausprobiert, mit dem Ergebnis, dass das Karussell sich immer schneller drehte. Alle waren unfreiwillige Mitfahrer, aber die rettende Bremse war nicht greifbar.

Nach zwei Jahren war die ganze Familie in einem Stadium allerhöchster Anspannung angelangt. Vornehmlich die Eltern hatten als Problemlöser versagt. Die Angst um unser Kind fraß uns allmählich auf.

Immer wieder stellten wir Eltern und die gleichen Fragen: Wer ist schuld an dieser Krankheit? Was haben wir als Eltern falsch gemacht? Was haben wir übersehen? Was haben wir versäumt? Haben wir zu wenig getan? Aber die selbstquälerischen Fragen brachten uns nicht weiter. Was wir aber erkannten, war unsere Machtlosigkeit gegenüber dieser Krankheit und die Einsicht, dass nicht nur unsere Tochter der Hilfe bedurfte, sondern auch der Rest der Familie dringend Hilfe brauchte.

„Ich begann, die Krankheit mit anderen Augen zu sehen“

Ausgerechnet die kranke Tochter brachte den entscheidenden Hinweis. Inzwischen wieder in einer Therapie und in einer Selbsthilfegruppe brachte sie einen Flyer mit  – vom Elternkreis essgestörter Töchter und Söhne in Bremen. Ich als Mutter wurde vorgeschickt, mein Mann lehnte es ab mitzukommen. Ich ging hin, aber mit viel Skepsis und ohne große Erwartungen. Wie konnte diese Gruppe mir helfen? Ich machte eine entscheidende Erfahrung: Ich war nicht mehr allein, andere Familien hatten ähnliche Probleme und konnten mit Rat und Tat unterstützen und Hoffnung und Stärke vermitteln.

Ich begann die Krankheit und ihre Auswirkung mit anderen Augen zu sehen. Nach und nach verstand ich die Zusammenhänge zwischen Co-Abhängigkeit und Fortdauer der Krankheit, sowie die eigenen fehlerhaften Versuche, den Verlauf mit Kompromissen positiv zu beeinflussen. Ich konnte die Chance ergreifen und nutzen, um mein Leben wieder neu zu gestalten, eigenen Bedürfnissen nachzugehen und wieder Freude zu empfingen, was sich letztlich auch auf die Familie übertragen hat.

Meine Tochter hat mich immer darin bestärkt, den Elternkreis zu besuchen, und die sich daraus ergebenen positiven Veränderungen haben sich langfristig – direkt und indirekt – auf alle Familienmitglieder und auch auf den Gesundungsprozess unserer Tochter ausgewirkt.

„Jeder in der Familie ist an dieser Krankheit gewachsen“

Resümee: Heute, nach vielen Jahren, in denen es Erfolge aber auch Rückschritte gab, die einfach dazugehören, kann ich sagen, dass meine Tochter die Essstörung überwunden hat. Sie hat aber auch für sich erkannt, dass sie gefährdet ist, in krankmachende Muster zurückzufallen und deshalb muss sie gut für sich sorgen. Ich stelle mit Freude fest, dass sie das auch in zunehmendem Maße umsetzt.

Auch die anderen Familienmitglieder haben für sich Strategien entwickelt, wie sie das damals unfreiwillig Erfahrene und Erlernte zu ihrem Vorteil umsetzen. Jeder in der Familie ist an dieser Krankheit gewachsen. Inzwischen haben wir wieder Familientreffen, zu denen alle Familienmitglieder gerne kommen. Es herrscht eine entspannte Atmosphäre, in der viel gelacht und, wie ich meine, offen und ehrlich und mit wohltuendem Abstand über die Vergangenheit geredet werden kann. Dies habe ich vor einiger Zeit noch nicht zu hoffen gewagt.

Nichts hat sich so sehr in meinen Augen bewahrheitet wie die Mobile-Theorie, die da aussagt: „Wenn sich ein Teil bewegt, müssen sich die anderen Teile zwangsläufig auch bewegen. Anders aber als beim Mobile können wir sehr wohl die Richtung mitbestimmen, in die es sich drehen soll.“

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