Ulrike (63): "Die Sucht meines Vaters begleitete mich durch die Kindheit"
Von klein auf war ich daran gewöhnt, dass das Leben mit einem alkoholkranken Elternteil anders als bei anderen Kindern war. Meine Mutter schickte uns oft zu den Großeltern, bei denen wir schliefen, wenn unser Vater wieder einmal angetrunken nach Hause kam. Sie versuchte sich immer schützend vor uns zu stellen, damit wir nicht allzu viel mitbekamen. Das ließ sich aber nicht immer vermeiden – es kam vor, dass er meine Mutter schlug und sie anschrie.
Die Familie bekam seine Wutausbrüche zu spüren
Auch meine beiden älteren Geschwister bekamen seine Wutausbrüche zu spüren. Nur ich nicht, weil ich sein Liebling war. Warum weiß ich bis heute nicht. So habe ich versucht, meine Mutter und Geschwister in Schutz zu nehmen. Wenn etwas kaputt ging oder verlegt wurde, behauptete ich, das sei mir passiert und konnte so die Situation erst einmal schlichten. Meine Mutter schaute mich dann immer sehr traurig und gleichzeitig dankbar an.
Eines Tages kam mein Vater wieder einmal spät nach Hause und hatte wie üblich einen über den Durst getrunken. Von meiner Mutter verlangte er, sie solle ihm das Bettzeug ins Treppenhaus legen, denn er wolle dort schlafen. Die Nachbarn bekamen alles mit hinter ihren Türen – das ließen sie uns von Zeit zu Zeit uns spüren, indem sie schlecht redeten.
Einige Wochen später kam Vater wieder einmal angetrunken vom Dienst nach Hause. Der Arbeitgeber habe ihm gesagt, dass er etwas für sich tun solle, ansonsten würde er den Arbeitsplatz verlieren. Er gab meiner Mutter die Schuld, warum auch immer.
Zur Konfirmation holte er die Flasche aus der Jacke
Nun blieb kein anderer Weg: Für viele Wochen begab er sich in eine Klinik nach Hamburg. Als er wieder nach Hause kam, wurde auf einmal alles toll. Vater machte viel mit uns: Tierpark, Schwimmbad und andere schöne Dinge – es war eine wunderbare Zeit. Bis zur Konfirmation meines Bruders. Als dieser schöne Tag zu Ende ging, holte mein Vater plötzlich eine Flasche aus seiner Jacke und trank sie fast leer. Wir konnten gar nicht so schnell schauen, wie alles wieder von vorne begann.
Jetzt sollte es noch schlimmer kommen. Es verging kaum eine Woche, in der er nicht durchdrehte, um sich schlug und sich auf unsere Mutter stürzte. Danach wollte sie sich von ihm trennen. Das ging ihm völlig gegen den Strich: Er stellte uns zur Rede, ob auch wir Kinder ihn verlassen wollten. Keiner von uns traute sich etwas zu sagen. Nach dem letzten Krach, den unsere Eltern hatten, sprachen sie dann kein Wort mehr miteinander.
Für mich brach eine Welt zusammen
Dies hielt an, bis mein Vater wenige Wochen später zu Hause starb. Ich wollte ihn wie immer morgens wecken – den Anblick werde ich nie vergessen, wie er dort tot lag. Für uns fing eine ganz neue Zeit an. Wir mussten erst einmal lernen, dass das Leben auch anders sein kann. Andererseits brach für mich eine Welt zusammen. Ich wollte nicht mehr zur Schule gehen und nicht mehr essen, weil ich keinen Vater mehr hatte. Es wurde so schlimm, dass ich für ein Vierteljahr von zu Hause fortmusste und in eine Klinik kam, um den Schock zu verarbeiten. Dort waren viele Kinder, die Ähnliches oder auch ganz anderes erlebt hatten.
Ein gutes Gefühl beim Frauenbund
Danach verlief mein Leben zunächst in geordneten Bahnen. Nach der Ausbildung heiratete ich. Später entwickelte auch mein Mann Anzeichen einer Alkoholabhängigkeit. Weil er oft krank war und Schmerzen hatte, betäubte er diese mit Alkohol. Das beruhigte ihn und er konnte schlafen. Er verstarb dann 1998.
Einige Jahre später lernte ich noch einmal einen Mann kennen – er war trockener Alkoholiker. Weil er bei den Guttemplern war, entschied ich mich, auch dort aktiv zu werden. Später hörte ich vom Deutschen Frauenbund für alkoholfreie Kultur und ging ein paar Mal zu den Treffen. Nach einer ganzen Weile entschloss ich mich, dem Frauenbund beizutreten. Hier fühle ich mich nun schon seit vielen Jahren sehr wohl. Dieses Gefühl habe ich so noch nie in einer anderen Sucht-Selbsthilfegruppe gefunden.