Sabine (67): „Am Anfang habe ich mich bei jedem Schluck geschüttelt“
Ich war gerade 17 geworden, da übernahmen meine Eltern eine Gaststätte – und ich musste dort mitarbeiten. Bier mochte ich überhaupt nicht, es hatte für mich einen unangenehmen Geruch und Geschmack. Am Anfang habe ich mich bei jedem Schluck geschüttelt. Aber die Gäste tranken es sehr gerne und reichlich. Wenn mir ein Gast einen Weinbrand ausgab, habe ich mich anfangs davor geekelt, aber das Animieren der Gäste gehörte nun mal dazu. Natürlich konnte ich nicht viel vertragen, hatte Kopfschmerzen, mein Magen rebellierte, es ging mir einfach schlecht. Aber diese Symptome ließen mit der Zeit nach und ich fing an, es zu mögen und öfter was zu trinken.
Das war der Anfang vom Ende. Alkohol wurde für mich im Laufe von drei Jahren völlig normal – und bald ging es nicht mehr ohne. Ich kam nicht mehr davon los. Heute weiß ich gar nicht mehr, wie oft ich eine Flasche einfach ausgeschüttet habe und nicht mehr trinken wollte. Leider dauerte es nie lange bis zum nächsten Weinbrand oder Wodka, es war ein Teufelskreis. Es gab für mich kein Entkommen.
Zum Glück habe ich dann meinen Mann Bernd kennengelernt. Er wusste von meiner Sucht, die ich glaubte unter Kontrolle zu halten. Ich trank weniger als früher und stellte auf Wein um. Aber damit belog ich mich selbst, denn die harten Sachen konnte ich nicht mehr vertragen. Nach acht Jahren wurde ich endlich schwanger – wir waren beide sehr glücklich. Ich schaffte es, sofort mit dem Trinken aufzuhören. Aber die Angst, ob mein Kind unbeschadet zur Welt kommen würde, war groß. Unser Glück war vollkommen, als wir einen gesunden Wonneproppen bekamen. In den folgenden Jahren habe ich Alkohol nur noch zu bestimmten Anlässen zu mir genommen – so wie jeder andere auch.
Martin war unser Sonnenschein. Aber nach acht Jahren des Glücks schlug das Schicksal grausam zu: Bei einem Verkehrsunfall wurde unser Sohn getötet. Für uns brach eine
Welt zusammen. Ich weiß nicht, wie wir die ersten Tage, Wochen, Monate und Jahre überstanden hätten, ohne zu trinken. Wir wurden überhaupt nicht mehr nüchtern. Wir hatten das Liebste verloren und sahen keinen Weg für unsere Zukunft.
„Früher hatte ich Alkoholmissbrauch betrieben, jetzt war ich süchtig geworden.“
Wie sollte es weitergehen? Mein Mann war stärker als ich: Sein Geschäft drohte
zu scheitern, also machte er einen kalten Entzug und schaffte den Ausstieg. Bei mir klappte das nicht. Jeden Morgen, bevor mein Mann zu Arbeit fuhr, sagte er: „Schatz, bitte trink heute mal nicht so viel.“ Ich versprach es, aber kaum war er aus der Garage, hatte ich das Glas schon wieder in der Hand.
Mich plagte mein schlechtes Gewissen. Der Spiegel zeigte deutlich, was aus mir geworden war: Mein Selbstwertgefühl, meine Selbstachtung waren im Keller, und ich schämte mich so sehr. Früher hatte ich Alkoholmissbrauch betrieben, jetzt war ich süchtig geworden.
„Ich halte es nicht mehr aus!“
Bei einem gemütlichen Abend mit einem befreundeten Paar kam die Frage: „Sabine, meinst du nicht, du trinkst zu viel? Soll dich dein Mann noch am Grab besuchen müssen?" Ich kann heute gar nicht mehr sagen, wie dankbar ich für diese wahren Worte war. Meine Antwort: „Ja, du hast Recht. Morgen gehe ich mit Bernd zu unserem Hausarzt."
Ein sehr steiniger Weg folgte: Entgiftung, Therapie und Selbsthilfe. Aber es hat sich gelohnt.
Unterstützung bekam ich beim Deutschen Frauenbund für alkoholfrei Kultur. Durch viele Gespräche in Gruppen und Seminaren habe ich meine Persönlichkeit, Selbstachtung, Mut und Selbstwertgefühle wiedergefunden und führe ein zufriedenes alkoholfreies Leben.
Heute begleite ich Frauen mit Alkoholproblemen aus ihrer Sucht. Aus eigner Erfahrung weiß ich, wie schwer dieser Weg sein kann. Es ist ein super Gefühl, Frauen aus diesem Teufelskreis Hilfe zu geben, damit sie es auch schaffen, alkoholfrei zu leben. In den Selbsthilfegruppen können wir über alles reden. Wir haben alle das gleiche Problem, keiner muss sich schämen, und was im Raum gesprochen wird bleibt vertraulich. Diese Chance muss jeder bekommen!