Juliane (79): Auf der Lebenswippe
Ich war sieben Jahre alkoholabhängig. Meinen Eltern und Geschwistern erzählte ich erst ein Jahr, nachdem ich „trocken“ war, von meinem Problem. Meine Mutter konnte nicht verstehen, dass so etwas in ihrer Familie passieren konnte. Sie verstand nicht,
warum – denn sogar im Krieg hätte ich gute Butter zu essen bekommen.
Zu diesem Zeitpunkt war ich seit zwölf Jahren verheiratet, hatte einen fürsorglichen Ehemann und zwei gesunde wohlgeratene Kinder von zehn und neun Jahren, also keinen Grund zu trinken. Ich kam im Krieg zur Welt und war das zweite Mädchen in einer Handwerksfamilie. Das erste, was mein Vater sagte, als er mich sah: „Schon wieder ein Struwwelkopp“. Vier Jahre später kam mein Bruder zur Welt, der lang ersehnte Sohn, und noch mal fünf Jahre später mein jüngster Bruder.
Als Kind war ich nicht so pflegeleicht wie meine Schwester, aber ich tat alles, um meinen Eltern zu gefallen. Sie liebten mich genauso wie meine Geschwister, aber nicht so, wie ich es mir gewünscht hätte. Mit dieser Verunsicherung wuchs ich auf. Da man mir nicht mehr als die Volksschule zutraute, kam ich mit 15 Jahren in die Lehre. Mit 18 schloss ich meine Verkaufslehre mit Erfolg ab und suchte mir einen neuen Arbeitsbereich. Je älter ich wurde, desto größer wurde der Abstand zum Elternhaus. Mit 19 lernte ich meinen Mann kennen. Er ging für ein Jahr nach Kanada – und ich nach England.
Eine kleine glückliche Familie
Im Sommer 1960 trafen wir uns wieder und beschlossen, so bald wie möglich zu heiraten. Außer unserer Liebe war es für uns beide auch eine Flucht aus dem Elternhaus. Genau ein Jahr später wurde unser Traum wahr: Wir heirateten und bezogen unsere erste gemeinsame Wohnung im Heimatort meines Mannes. Ab jetzt waren es nicht meine Eltern, die mich beobachteten und kritisierten, sondern meine Schwiegereltern. In den nächsten viereinhalb Jahren kamen unsere Tochter und unser Sohn zur Welt. Wir waren trotz allem eine kleine glückliche Familie. Da mein Mann den Traum von einem eigenen Haus hatte, zogen wir, um Geld zu sparen, in eine Firmenwohnung – 50 Kilometer weit weg vom Heimatort. Unsere neue Wohnung befand sich im dritten Stock eines riesigen Wohnblocks, eine neu gebaute Wohnstadt in der Nähe eines kleinen Ortes. Es war ein Alptraum! Meine Kinder waren inzwischen knapp drei und ein Jahr alt. Wo sollten sie spielen? Eine Straße vor unserem Block, dahinter ein Wohnsilo neben dem anderen.
Mein Mann hatte damals sehr oft Nachtschicht und musste tagsüber schlafen. Das machte die Situation noch um vieles schwieriger. Kinder in diesem Alter zur Ruhe anzuhalten, ist fast unmöglich. Die Angst, dass mein Mann im Schlaf gestört werden könnte, machte mich oft nervös. Die Kinder waren in dieser Zeit sehr oft krank. Wir hatten kein Telefon und wenn ich einen Arzt brauchte, musste ich ihn von einer öffentlichen Telefonzelle aus anrufen. Um Lebensmittel einkaufen, fuhr ich eineinhalb Kilometer mit dem Fahrrad, ein Kind vorn im Kindersitz und ein Kind hinten. Im Winter bei Schnee ein gefährliches Unternehmen.
Ich wollte nur, dass mein Mann mehr Zeit für mich hatte ...
Mein Mann war damals kaum zu Hause, denn der Traum vom Haus war in greifbare Nähe gerückt. Es wurde gespart und nochmals gespart. Jeder Pfennig wurde drei Mal umgedreht. Geld für Urlaub wurde in „Hohlblock“ umgerechnet. Er arbeitete rund um die Uhr und ich fühlte mich mit all den Problemen alleine gelassen. Es gab wenig Gespräche und wenig Unternehmungen mit der Familie. Wenn er zwischen den Nachtschichten frei hatte, besuchten wir meine Eltern. Sie ermöglichten uns auch den Kauf eines Grundstücks in der Heimatstadt meines Mannes. Aber ich wollte kein Haus, ich wollte nur, dass mein Mann mehr Zeit für mich und unsere Kinder hat. Nur ein normales Familienleben, das ich durch das Geschäft meiner Eltern als Kind nicht erleben konnte.
Einer damaligen Nachbarin vertraute ich mich an und sie empfahl mir, mich nicht zu ärgern, sondern einen Schnaps zu trinken. Das war einfach. Unsere Hausbar war gut ausgerüstet und so kam sie jeden Tag zu beliebiger Zeit, um mit mir die Hausbar leer zu trinken. Es war schön, eine Gesprächspartnerin zu haben und sich alle Sorgen von der Seele zu reden. Alles war ein bisschen einfacher. Als die Bar leer war und meine Nachbarin immer noch einen Schnaps trinken wollte, bekam ich Schwierigkeiten. Da bei uns normal kaum Alkohol getrunken wurde, konnte ich den Verlust der vollen Flaschen noch eine Zeit vor meinem Mann vertuschen. Um die Bar wieder aufzufüllen, hatte ich nur die Möglichkeit, bei den Lebensmitteln einzusparen. Mittlerweile hatte ich mich aber auch an das leicht berauschende Gefühl gewöhnt und wollte darauf nicht mehr verzichten. Ohne es zu merken, war ich innerhalb eines halben Jahres in die Abhängigkeit abgerutscht. Die Sucht war nicht mehr aufzuhalten, begriffen habe ich das damals nicht. Zunächst genoss ich die Rauschzustände und machte mir auch keine Gedanken über meine Trinkgewohnheiten. Ich war zur Spiegeltrinkerin geworden. Ich trank immer nur so viel, damit ich mich wohlfühlte. Mein Mann merkte lange nichts von meinem Problem, denn er war sehr, sehr oft nicht zu Hause.
Ich trank immer nur so viel, dass ich mich wohlfühlte
Solange ich den Spiegel halten konnte, ging es mir recht gut. Ich kümmerte mich um den Haushalt, die Kinder und brachte ihnen im Sommer sogar das Schwimmen bei. Eine ganze Zeit konnte ich meinen Mann mit Normalsein täuschen. Nicht mehr lange – und mein Verhalten veränderte sich derart zum Negativen, dass es nicht nur meinem Mann auffiel, sondern auch mir. Da ich nur in unserer Wohnung trank und auch nie volltrunken war, bekam das Umfeld von meiner Trinkerei nichts mit. Ich verstand mich selbst nicht mehr, machte Dinge, die ich ohne den Alkohol nie getan hätte. Als dann die Verzweiflung kam, suchte ich mehrere Ärzte auf. Aber außer Medikamenten kam nichts. Von Therapieangeboten erfuhr ich erst viel später. Ich wollte einfach wieder normal sein, so wie früher. Es machte mich fast verrückt, dass ich nicht mehr selbst über mein Leben bestimmen konnte.
Inzwischen wurde das Haus mit Unterstützung meiner Eltern gebaut. Mein Mann war nun noch weniger zu Hause. Beruf, Überstunden und Arbeiten am Haus waren sein Leben. Nachdem wir umgezogen waren, wohnten wir wieder in der Nähe der Familie. Mein Mann war jetzt sehr viel mehr zu Hause und meine Hoffnung war groß, dass sich alles zum Guten wenden würde.
Aber ich hatte meine Alkoholsucht unterschätzt. Wir litten noch drei Jahre. Die Kinder, meine Familie und meine Nachbarn bekamen von meiner Sucht kaum etwas mit. Wurden wir eingeladen, trank ich höchstens ein Glas. Mehr brauchte ich nicht, denn meinen Alkoholspiegel hatte ich schon zu Hause aufgefüllt. Die Sucht hatte mich jetzt voll im Griff. Täglich nahm ich mir vor, damit aufzuhören, aber ich schaffte es nicht. Das Gefühl, nicht trinken zu wollen, es aber doch zu tun, diese Ohnmacht, diese Schuldgefühle brachten mich fast um. Ich hasste meine Schwäche und meine Hilflosigkeit. Aus Verzweiflung suchte ich mir für samstags eine Aushilfsstelle im Verkauf. So hatte ich zwei Tage, an denen ich gezwungen war, den Alkohol zu reduzieren. Den Freitag durfte ich ab Mittag nichts mehr trinken, sonst hätte ich am nächsten Morgen so gezittert und es wäre mir kaum möglich gewesen, ohne aufzufallen, einen Kassenzettel auszustellen. In der Umkleidekabine hing ein großes Plakat mit etlichen Hilfsangeboten. Darunter auch eine Telefonnummer, die man anrufen konnte, wenn man Probleme mit Alkohol hat. Angeschaut habe ich sie immer, aber aufgeschrieben oder angerufen habe ich damals noch nicht
Langsam wurde es eng, mir war bewusst, dass es eine Frage der Zeit sein würde, dass mein Zustand sich nicht nur nicht verbessern, sondern sogar verschlechtern würde, wenn ich nicht die Kraft hätte, etwas gegen diese Krankheit zu unternehmen. Meine Tochter hatte die Grundschule hinter sich und würde in ein paar Monaten die Schule wechseln. Nachts hatte ich Alpträume: Meine Tochter würde ihre Freundin mitbringen und ich, ihre Mutter, läge betrunken am Boden. Oder ich läge betrunken im Garten und Nachbarn fänden mich. Bei diesen Vorstellungen bekomme ich heute noch Schweißausbrüche.
Ein Filmriss
Ausschlaggebend für die Wende war ein Filmriss: Nachdem ich mittags eine halbe Flasche Gin getrunken hatte, schlief ich ein und erwachte um acht. In der Vorstellung, dass es der nächste Morgen sei, sprang ich aus dem Bett und wollte die Kinder für die Schule wecken. Aber die Betten waren leer und unberührt. Auch das Bett meines Mannes war unbenutzt. Jetzt geriet ich in Panik! Er hatte mich bestimmt verlassen und die Kinder mitgenommen. Die schlimmsten Befürchtungen waren eingetroffen. Nach etlichen Telefonaten stellte sich heraus, dass es abends um acht war und nicht morgens. Mein Mann war unterwegs und holte die Kinder vom Judo-Training ab.
Jetzt musste ich handeln, bevor das eintreffen würde, was ich so sehr befürchtet hatte. Zwei Tage später erkundigte ich mich bei meiner Kollegin nach der Telefonnummer auf dem Plakat. (Natürlich nicht für mich, sondern für eine Bekannte.)
Montags morgens wählte ich die Telefonnummer. Eine freundliche männliche Stimme meldete sich. Ich erklärte ihm meine Situation und er lud mich für denselben Abend zu einer Zusammenkunft der Selbsthilfegruppe ein. Mein Entschluss war gefasst. Das nächste Telefongespräch führte ich mit meinem Mann. Ich bat ihn, mich am Abend um halb acht in die Metzlerstraße zu fahren und um zehn wieder abzuholen. Danach trank ich die letzte Flasche Gin leer, legte mich ins Bett, um am Nachmittag wieder einigermaßen nüchtern zu sein.
Mein Mann kam pünktlich von der Arbeit, und ich war fast nüchtern. Nach dem Abendbrot mit den Kindern fuhren wir pünktlich um sieben Richtung Sachsenhausen. Vor der Hofeinfahrt setzte mich mein Mann ab, denn diesen ersten Schritt wollte ich alleine gehen. Es war mein Problem, und das wollte ich auch vorerst alleine bewältigen. Die letzte Zeit war nicht einfach für ihn gewesen. Trotz allem vertraute er mir und gab mir die Zeit, mich selbst zu entscheiden, wann und wie ich aufhören würde zu trinken. Um eines bat ich ihn, als ich aus dem Auto stieg: dafür zu sorgen, dass nach meiner Rückkehr kein Alkohol in unserem Hause zu finden sei.
Die Chance, auf die ich so lange gewartet hatte
Mit zittrigen Knien folgte ich den Stimmen, die aus dem Garten kamen. Es war ein wunderbarer Sommerabend und ich weiß noch genau, was ich anhatte, eine grüne Hose und ein lila T-Shirt. Ich fragte nach dem Herrn, mit dem ich am Morgen telefoniert hatte und er stellte mich den anderen Leuten vor. An diesem Abend unterhielt ich mich zum ersten Mal mit Menschen, die das gleiche Problem hatten wie ich, es aber geschafft hatten, ohne Alkohol zu leben. Außer mir waren an diesem Abend noch zwei Neulinge anwesend, ein Mann und eine Frau. Geredet habe ich an diesem Abend nicht viel, ich hörte nur zu und saugte alles Neue in mich auf. Das war die Chance, aus der Sucht auszusteigen, auf die ich so lange gewartet hatte.
Alleine würde ich es nicht schaffen, aber ich war mir der Unterstützung meines Mannes und dieser Gemeinschaft sicher. Mein Entschluss stand fest, ich wollte ab sofort ohne Alkohol leben. Der Abend war so schnell vergangen, es war schon zehn. Zum Abschied bekam ich etliche private Telefonnummern, die ich anrufen konnte, wenn ich moralische Unterstützung oder einfach nur jemand zum Reden brauchte. Den größten Eindruck hinterließ aber ein Mann um die 50, groß und korpulent. Er gab mir zum Abschied die Hand, schaute sehr ernst und sagte zu mir kleinen 157-Zentimeter-Frau: „Bis nächste Woche, GROSSE“. Ich habe nur mit dem Kopf genickt, aber das war ein ganz festes Versprechen, und das wollte ich auf alle Fälle halten. Beim Hinausgehen begleitete mich der Mann, der auch zum ersten Mal dabei war. Er meinte nur: „Sie haben sich ja schon festgelegt. Ich brauche jetzt erst ein Bier“. Ich habe ihn nie mehr gesehen.
Mein Mann hatte Wort gehalten und unser Haus war alkoholfrei, als wir zurückkamen, Nun fanden viele Gespräche statt, auch mit den Kindern. Ich musste ihnen erklären, warum ihre Mutter oft ungeduldig, nervös oder auch müde war. Ob sie es damals verstanden haben, weiß ich nicht. Auf jeden Fall fanden sie es prima, dass es bei uns keinen Alkohol mehr gab, und das erzählten sie auch jedem, der es hören wollte oder nicht.
Der Alkoholspiegel ging zurück und das große Zittern begann. Zuerst kämpfte ich Stunde um Stunde, dann Tag um Tag, dann um Wochen, um Monate gegen die Sucht. Es war hart, aber ich war nicht alleine. Mein Mann hatte mir versprochen, auch auf Alkohol zu verzichten, und meine Freunde der Selbsthilfegruppe unterstützten mich mit Rat und Tat. Der Alltag hatte mich eingeholt und die Versuchung beim Einkaufen war groß. Jetzt aber war ich so weit, dass ich wieder selbst über mein Leben bestimmen konnte. Das gab ich nicht auf.
Nach drei Jahren stellte ich fest, dass ich zwar das Glas stehen ließ, aber die Sucht immer noch in mir schlummerte. Jetzt war es an der Zeit, mir professionelle Hilfe zu holen. Ich nahm privat Psychotherapie in Anspruch und nach etwa drei Jahren harter Therapie hatte ich die Zuversicht und die Hoffnung, für immer das Glas/die Flasche stehenzulassen.
Der harte Weg aus der Sucht
Es war ein harter Weg aus der Sucht. Ich bewältigte den körperlichen Entzug ohne ärztliche Hilfe und auch ohne Medikamente. Darum bin stolz, dass ich den Kampf gewonnen habe. Aber eines weiß ich: Wäre der Leidensdruck nicht so groß gewesen und hätte ich nicht die Hilfe von so großartigen Menschen gehabt, hätte ich den Kampf leicht verlieren könne. Seit 1973 lebe ich alkoholfrei. Acht Jahre später verstarb unerwartet mein Mann. Jetzt war ich froh über das Haus, das ich damals nicht haben wollte. Denn nach diesem Schicksalsschlag gab es mir und meinen Kindern Schutz und Geborgenheit.
Es klingt seltsam, wenn ich heute sage, dass ich für diese schwere Zeit dankbar bin. Sie hat mich stark gemacht, mir geholfen, schwere Lebenskrisen zu überstehen und ich bin Menschen begegnet, die ich sonst nie getroffen hätte.
Ich bin dankbar, denn ich habe einen großartigen Schutzengel. Er hat mich zum richtigen Zeitpunkt zu den für mich richtigen Menschen geführt und mir Kraft gegeben. Seit über dreißig Jahren lebe ich nun alkoholfrei und hoffe, dass ich den Menschen, die in unsere Gruppen kommen und in der gleichen Situation sind, wie ich damals, den Mut und die Kraft geben kann, um den Schritt aus der Sucht zu wagen.