Hannelore (70): Horror im Delirium
Eigentlich war mein Leben ausgefüllt mit schönen Erlebnissen, einem netten Eigenheim und einem geregelten Tagesablauf. Doch es kam der bittere Zeitpunkt, an dem ich erkennen musste, dass mein Mann sich zum Alkoholiker hochgesoffen hatte: Nach drei Führerscheinentzügen stand eine MPU- Untersuchung zur Begutachtung der Fahreignung an. Aber mein Mann fuhr weiter ohne Führerschein. Ich wusste nicht mehr weiter und reichte schließlich nach langem Hin und Her die Scheidung ein. Noch während unserer Trennungsphase verstarb mein Mann an seiner Krankheit.
Ich stand plötzlich als Witwe da mit zwei halbwüchsigen Teenagern. Die ältere der beiden Töchter hat eine hundertprozentige geistige Behinderung. Es lag nun an mir, die kleine Familie zusammenzuhalten.
Der tägliche Griff zur Kühlschranktür
Ende der 1990er-Jahre merkte ich, wie sich mein eigenes Trinkverhalten änderte. Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, war mein erster Griff an die Kühlschranktür zur Weinflasche. Ach, das tat so gut zum Herunterfahren!
2006 habe ich mich als Alkoholikerin geoutet und meine erste Langzeittherapie in Angriff genommen. Es folgten zwei weitere Klinik-Therapien, ambulante abgebrochene Therapien und zahlreiche kalte Entzüge. Ich wollte es so sehr – mich von der Sucht befreien, mein altes Leben zurückhaben, wieder zufrieden sein.
Kalter Entzug
Zwei schwere Delirien, die mir fast das Leben genommen hatten, folgten. Während eines kalten Entzugs sah ich im Wahn hunderte von Frettchen, die unter und über meinem Bett herumwuselten. Immer wenn ich die Augen schloss, waren sie da – einfach grausig.
Das zweite Delirium traf mich an einem Sonntag. Ich sah fern, da trat meine behinderte Tochter ins Wohnzimmer und fiel über dem Sofa zusammen. Sofort rief ich die Notrufzentrale an und sagte: „Sie müssen kommen! Ich glaube, meine Tochter hatte einen Schlaganfall.“ Als die beiden Notärzte da waren und nach meiner Tochter fragten, war sie gar nicht bei mir. Die Ärzte merkten auf der Stelle, wie schlecht mein Zustand war. Ich habe dann erst wieder eine Erinnerung, als ich im Notarztwagen war. Ob meine Tochter schon auf der Intensivstation sei, wollte ich als erstes wissen. Die Ärzte beruhigten mich und meinten, meine Tochter sei in guter Verfassung.
In der geschlossenen Psychiatrie
Ich wurde in die geschlossene Psychiatrie gebracht und in der Nacht fixiert, weil ich mich unruhig hin und her wälzte. Am nächsten Tag kam meine andere Tochter, kreidebleich und mit übernatürlich riesigen Augen ins Krankenhaus. Was ich dann von mir gab, ist für mich selbst heute noch unbegreiflich. Ich fragte meine Tochter, 24 Stunden nach dem Vorfall, tatsächlich: „Wie geht es Annika? Ist sie über den Berg?“ Ich steckte immer noch im Delir! Wir waren beide entsetzt.
„Ich passe gut auf mich auf“
Das war der Wendepunkt in meinem Säuferdasein. Ich erkannte: Das halte ich nicht mehr aus. Ich glaube, diese Nacht hätte ich ohne diese Einsicht nicht überlebt. Auf diese Weise hat meine behinderte Tochter mir das Leben gerettet.
Ich lebe nun seit zwei Jahren alkoholfrei und habe mein altes Leben wieder im Griff. Mein Gesundheitszustand ist wieder topp. Meine Familie, Freunde und Weggefährten sind begeistert von der „neuen“ Hannelore. Ich besuche wieder regelmäßig meine Sucht-Selbsthilfegruppe und bin aktiv bei Seminaren und Workshops dabei. Es füllt mich aus und gibt mir ein sicheres, gutes, positives Gefühl. Ich weiß: Das alles ist mit viel Geduld und Gesprächen geschafft. Ich passe gut auf mich auf und sorge gut für mich.