Marie (25): „Ich dachte, es sei harmlos“
Ein ehrlicher Erfahrungsbericht über Essstörung, Medikamentenmissbrauch und den Weg zurück
Von Marie, für alle, die kämpfen.
Es war nur ein Versuch. Ein einziges Mal. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt. Ich wollte, dass sich etwas verändert, leichter wird. Und ich tat es an einem Ort, an dem ich hätte
erwischt werden können – fast als hätte ich gehofft, dass jemand mich aufhält. Doch niemand tat es. Und aus diesem einmal wurden fast vier Jahre.
Ich möchte diesen Text schreiben – nicht als Warnung mit erhobenem Zeigefinger, sondern als echte, offene Stimme für alle, die sich vielleicht in meinem Erleben wiederfinden. Ich
weiß, wie einsam dieser Weg ist. Ich weiß, wie tief die Scham sitzt. Aber ich weiß auch: Es gibt einen Weg zurück. Nicht perfekt, nicht gradlinig, aber möglich.
Wenn Schmerz zur Gewohnheit wird
Ich begann regelmäßig Laxanzien zu nehmen. Dann versteckte ich sie überall: im Auto, in meinen Taschen, im Badezimmer – damit ich jederzeit Zugriff hatte. Es ging nie wirklich nur
ums Gewicht. Es ging um die Kontrolle. Um das Gefühl, meine Emotionen irgendwie auszuschalten, weil sie sich wie eine Bedrohung anfühlten.
Schmerz wurde zur Gewohnheit.
Ich zwang meinem Körper etwas auf, das er nicht verdient hatte. Ich betäubte mich. Ich betrog mich selbst – und alle um mich herum. Ich log in Therapien, in Kliniken, bei
Menschen, die mich liebten. Sagte, ich hätte nichts dabei, sagte, ich hätte aufgehört. Ich wusste, was ich tat, war gefährlich. Aber das war mir egal. Ich wollte nicht fühlen. Ich wollte
nichts spüren. Ich wollte einfach… verschwinden.
Irgendwann reichten die Laxanzien nicht mehr. Ich bestellte mir Diuretika im Internet. Der Schmerz war inzwischen Routine geworden. Die körperlichen Folgen – Krämpfe, Herzprobleme, Kreislaufzusammenbrüche, Übelkeit, Magenkrämpfe, totale Erschöpfung – wurden zum ständigen Begleiter. Ich konnte oft kaum laufen, kroch durch meine Wohnung, hielt mich an Wänden fest, weil mein Körper einfach nicht mehr mitmachte.
Ich musste immer wissen, wo die nächste Toilette ist. Ich entwickelte Strategien, Ausreden, Rückzugsorte. Es war kein Leben – es war ein Überleben im Schatten meiner selbst.
Hilfe – und die Angst, sie anzunehmen
Ein Therapeut wurde schließlich zu einer der wichtigsten Personen in dieser Zeit. Er machte klare Ansagen, zog Grenzen, wo ich selbst keine hatte. Wir trafen eine Vereinbarung: Keine
Medikamente mehr. Ich stimmte zu – nicht aus Überzeugung, sondern aus Angst vor Konsequenzen. Aber er blieb. Er ließ sich auf den Kampf mit mir ein. Und auch wenn es viele unschöne Momente gab – er ging nicht.
Ich konnte irgendwann tatsächlich sagen: Ich nehme keine Medikamente mehr. Wochen vergingen, Monate. Ich begann, wieder an mich zu glauben. Doch dann kam er: der Rückfall.
Vier Wochen lang griff ich erneut zu Laxanzien und Diuretika. Alte Muster, alte Gedanken, alter Schmerz. Ich fühlte mich wie eine Versagerin. Alles schien sinnlos. Aber ich sprach
darüber. Zum ersten Mal sprach ich über einen Rückfall nicht mit Scham – sondern mit dem Wunsch, wieder rauszukommen.
Rückfall bedeutet nicht das Ende
Ich möchte diesen Punkt betonen: Ein Rückfall bedeutet nicht, dass du versagt hast. Er bedeutet, dass du kämpfst. Dass du auf dem Weg bist – und der Weg ist nun mal nicht gerade. Heilung ist kein Wettbewerb. Kein Ziel, das man „erreicht“ und dann ist alles vorbei. Es ist ein tägliches Entscheiden. Ein Lernen, ein Verstehen, ein Annehmen.
Ich bin nach dem Rückfall wieder aufgestanden. Habe Hilfe angenommen. Ich habe mich einer Suchtgruppe angeschlossen. Habe meine Wochen ohne Medikamente gefeiert, aber auch
ehrlich geteilt, wenn ich strauchelte. Dort fühlte ich mich das erste Mal wirklich verstanden. Nicht bewertet, nicht analysiert – sondern gesehen.
Was die Medikamente wirklich mit mir gemacht haben
Ich glaubte, ich würde mit diesen Mitteln Gewicht verlieren. Die Realität?
- Ich verlor meine Lebensqualität.
- Ich verlor Kontrolle, nicht nur über mein Essverhalten, sondern über mein ganzes Leben.
- Ich verlor Beziehungen, weil ich nicht ehrlich sein konnte.
- Ich verlor mich selbst.
Und was ich bekam?
- Herzprobleme
- Magenkrämpfe
- Kreislaufkollapse
- Angst, irgendwo ohne Toilette zu sein
- Panik, wenn ich nichts „bei mir“ hatte
- Lähmende Erschöpfung
- Isolation
- Tränen und Schmerz, die mich sogar am Krabbeln hinderten
Nichts davon hatte mit Heilung, mit Kontrolle oder mit einem gesunden Körper zu tun. Es war Zerstörung. Von innen nach außen.
Heute: Ich bin nicht „geheilt“ – aber ich bin frei
Heute kann ich sagen: Ich nehme keine Medikamente mehr. Nicht, weil ich „perfekt“ bin oder nie wieder schwanke. Sondern weil ich gelernt habe, ehrlich zu sein – vor allem zu mir selbst.
Ich habe gelernt, dass Schmerz nicht mit Schmerz geheilt werden kann. Dass ich Gefühle zulassen darf, ohne dass sie mich überwältigen. Dass mein Körper kein Feind ist, den ich
bekämpfen muss. Dass ich nicht falsch, nicht schwach, nicht wertlos bin.
An dich, wenn du das liest und dich wiedererkennst
Vielleicht nimmst du Medikamente. Vielleicht überlegst du, damit anzufangen. Vielleicht hast
du „nur mal ausprobiert“ – oder du kämpfst seit Jahren. Vielleicht hast du einen Rückfall
gehabt. Vielleicht redest du mit niemandem darüber.
Aber bitte, hör mich an:
Du bist nicht allein.
Dein Schmerz ist real – und er darf Raum haben.
Aber du musst dich nicht weiter zerstören, um ihn zu bewältigen.
Du verdienst ein Leben ohne Lügen, ohne Abhängigkeit, ohne diese ständige Angst.
Rückfälle machen dich nicht schwach. Medikamente machen dich nicht stark.
Du bist stärker, als du glaubst – auch jetzt, auch mit all deinen Wunden.
Hör auf, dich zu verletzen. Du darfst leben.
Mit Liebe, Verständnis und echtem Mitgefühl,
Marie