Patti (69): „Ich empfand maßlose Scham und Schuld“

Strenge und Gewalt dominierten mein Elternhaus, in dem ich aufwuchs. Ich war das siebte Kind, der Abstand zu den Geschwistern betrug sechs bis 13 Jahre. Als ich sechs war, zogen wir in ein reetgedecktes Haus mitten in wunderbarer Natur; das nächste Dorf war fünf Kilometer entfernt, die Grundschule sieben. Der Altersunterschied zu meinen Geschwistern war zu groß, und Mitschüler*innen besuchten mich auf Grund der großen Entfernung nicht. So war ich außerhalb der Schulzeit weitestgehend allein.

In den Ferien durchstreifte ich, meist barfuß, tagelang die Umgebung. Ich schaffte mir zwischen Wäldern, Wiesen und Teichen eine Phantasiewelt, fernab vom ständigen Druck und Streit zu Hause. Ich war fast ein bisschen verwildert. Mit meinen Puppen erspielte ich mir eine heile Welt.

Im Elternhaus fühlte ich mich nicht anerkannt, vor meinem Vater hatte ich nur Angst, meine Mutter strafte mich oft tagelang mit Schweigen; ich konnte bitten und betteln, sie ließ sich nicht erweichen. Ich fühlte mich oft ungerecht behandelt, unverstanden und nicht ernst genommen. Meine Mutter liebte ich abgöttisch, auf die Anerkennung meines Vaters wartete ich zeit seines Lebens vergeblich.

Im meinem Abschlusszeugnis nach der dritten Klasse war vermerkt: „Patti ist für ihr Alter zu ernst.“ Als Kommunionkind lernte ich die Zehn Gebote auswendig, musste zur Beichte gehen. Wenn ich es heute betrachte, war es absurd, welche Sünden ich als Zehnjährige glaubte zu begehen. Der sogenannte Beichtvater sagte einmal zu mir, als ich gestand, 50 Pfennig aus dem Geldbeutel meiner Mutter gestohlen zu haben: „Mit Kleinem fängt es an, mit Großem hört es auf.“ Ich war fest überzeugt, eine Diebin zu werden! Ich nahm den katholischen Glauben sehr ernst – ich erwartete, in die Hölle zu kommen. Immer wieder stellte ich mir abends im Bett vor, wie es dort wäre, wo das Feuer brennt und verzweifelte an dem Gedanken, dass die Ewigkeit nie endet.

„Jahrzehntelang habe ich mit keinem Menschen darüber sprechen können“

Etwa in diesem Alter wurde ich von einem meiner Brüder sexuell missbraucht. Aus Angst vor ihm, und auch weil mir die Worte dafür gefehlt hätten, erzählte ich es nicht meiner Mutter. Außerdem schämte ich mich abgrundtief, fühlte mich selbst schuldig und war fest überzeugt, dafür von ihr bestraft zu werden. Mich hat niemand im Elternhaus aufgeklärt, ich hatte aber gelernt, dass ich mich im Intimbereich nicht berühren durfte. Und allein die Gedanken an das, was mein Bruder mit mir tat, bedeuteten eine schwere Sünde. In der Beichte konnte ich das unmöglich aussprechen, die Scham war zu groß. Jahrzehntelang habe ich mit keinem Menschen darüber sprechen können. Ich habe mir selbst immer eingeredet, dass diese Übergriffe ja nicht so schlimm gewesen seien.

Mein Vater regierte nach dem Gebot: „Teile und herrsche“. Er säte Zwietracht und verteilte seine Sympathien ungleichmäßig an uns Kinder. Dies und seine brutalen Schläge ließen meine fünf Brüder zu Feinden werden. Für mich als Kind und Heranwachsende waren ihre Schlägereien und erbitterten Kämpfe untereinander ein Albtraum. Unsere Mutter schrie und heulte vor Verzweiflung; einmal ohrfeigte sie einer meiner Brüder, um sie aus ihrem Zustand der höchsten Not heraus zu holen. Mehrmals wurden einzelne Brüder von meinem Vater aus dem Haus geschmissen – besser gesagt, aus dem Haus geprügelt.

Einer meiner Brüder entwickelte eine schizophrene Psychose und ging im Alter von etwa 15 Jahren von sich aus in eine Psychiatrische Klinik. Er hatte zeitlebens mal mehr mal weniger schwere Schübe. Nahm er Medikamente, kam er ganz gut klar, aber immer wieder glaubte er, darauf verzichten zu können und verfiel wieder in einen Zustand, der mir als Kind nur Angst machte. In der Familie wurde seine Krankheit nicht anerkannt. In den 1960er-Jahren ging man nicht zum Psychiater, sondern „riss sich am Riemen“, ganz besonders in meiner Familie. Mit Gewalt glaubte mein Vater, ihn „zurechtbiegen“ zu können.

Als ich etwa zehn Jahre alt war, wurde ich eines Nachts von einem lauten Tumult im Schlafzimmer meiner Eltern geweckt. Vor Schreck erstarrt lag ich im Bett, als die Tür von meinem Zimmer aufgerissen wurde und meine Mutter, auf der Flucht vor meinem auf sie einschlagenden Vater, durch mein Zimmer rannte. Dann schrie mein Vater mich an, ich solle nach ihr sehen. Ich habe die Welt nicht mehr verstanden. Meine Mutter, die für diese Nacht in ein anderes Zimmer geflüchtet war, tröstete mich, nahm meinen Vater in Schutz und meinte, morgen sei alles wieder gut, es wäre nicht so schlimm. Konnte ich meiner Wahrnehmung noch trauen?

Dass ich bis zum Alter von 13 Jahren Bettnässerin war, zweimal ein Schuljahr wiederholen musste, erstaunt mich heute überhaupt nicht, damals empfand ich maßlose Scham und Schuld.

Meine Geschwister konnten nicht damit umgehen, dass ich zu allen gleichermaßen Kontakt hatte – sie erwarteten von mir, dass ich Partei ergreife. Bis heute sind sie untereinander zerstritten und haben keinen Kontakt. Meine Eltern sind seit vielen Jahren tot, drei meiner Geschwister auch, wir Übriggebliebenen sehen uns nur noch auf Beerdigungen.

„Heute weiß ich, dass meine oft hoffnungslose Stimmung den Namen Depression trägt“

Mit zwölf Jahren hatte ich mir einen Schlupfwinkel geschaffen, in dem ich den im Keller meiner Eltern geklauten Wein trank. Der Wein versetzte mich in einen entspannten und sorglosen Zustand und schaltete für eine Zeit mein Verlassenheitsgefühl und meine Ängste aus. Heute weiß ich, dass meine oft hoffnungslose Stimmung den Namen „Depression“ trägt. Mein Versteck wurde bald entdeckt, ich wurde bestraft.

Ungefähr zwei Jahre später waren meine Freundin und ich verliebt in zwei Klassenkameraden. Wir schrieben uns parfümierte Briefchen, es war total aufregend, vor lauter Hemmungen und mit glühend roten Köpfen hätten wir uns niemals angefasst. Wie sich herausstellte, verfolgte meine Mutter meine geheime Schwärmerei, indem sie in meinem Tagebuch las. Als ich einmal nach der Schule nicht zur verabredeten Zeit nach Hause kam, ging ihre Fantasie mit ihr durch. Während sie mich suchte, kam ich nach Hause und mein Vater schrie mich an. Ich wusste nicht, was ich tun sollte und da Freitag war, ging ich schon mal in die Badewanne, um mein Zuspätkommen gut zu machen.

Irgendwann stürzte meine Mutter herein, forderte mich auf, aus der Wanne zu kommen und schlug außer sich, mit einem Kleiderbügel auf mich ein. Ich krümmte mich am Boden, flehte um Gnade, wusste nicht, was sie so wütend gemacht hatte. Erst als der Holzbügel zerbrach, stürmte sie aus dem Bad. Das war ein Schock für mich, ich habe die Welt nicht mehr verstanden; von Heulkrämpfen geschüttelt, schlich ich mich in mein Bett. Später kam meine Mutter mit einer Schlaftablette, aber Worte hatte sie nicht für ihr Verhalten, es gab nie eine Aussprache. Die Tablette entsorgte ich im Waschbecken, ich war maßlos enttäuscht, fühlte mich ungeliebt und vollkommen allein auf der Welt.

Dies ist nur ein Bruchteil dessen, was wirklich geschah, und ich kann nicht beschreiben, in welch desolaten Zustand ich mich als Kind, später als Jugendliche befand. Mich haben diese Erlebnisse geprägt und in meinem Vertrauen zu den Menschen tief erschüttert. Sie waren grauenvoll, und bis heute habe ich diese Bilder vor Augen. Sie haben in mir eine Gewaltphobie entstehen lassen. Ich hatte in meinem Leben stets Probleme mit Streit und Auseinandersetzungen. Ich war immer um Harmonie bemüht, und laute Stimmen lösten Panikattacken in mir aus. Auch wenn ich gar nicht an der Auseinandersetzung beteiligt war: der Film lief ab, seelisch und körperlich. Menschliche Nähe bereitete mir schnell Probleme.

Viele Jahre hatte ich eine wahnsinnige Angst davor, mein Gesicht zu verlieren; ich habe mich abgrundtief geschämt und gehasst, weil ich so schwach war, ich fühlte mich schuldig. Ich glaubte lange Zeit, durch meine erniedrigenden Erlebnisse beschmutzt zu sein und das selbst meine nächsten Menschen mich ablehnen würden, wenn sie erkennen, wie ich wirklich bin und nicht, wie sie mich sahen.

In späteren Jahren setzte ich den Alkohol immer häufiger als Medikament gegen meine Ängste, Minderwertigkeits- und Schamgefühle ein. Ich wurde körperlich und seelisch vom Alkohol abhängig. (Darüber berichte ich in meinem Suchtbericht)

Flucht vor mir selbst

Mich um kranke Menschen bis zur Selbstaufgabe intensiv zu kümmern, war auch eine Flucht vor mir selbst und hatte Suchtcharakter. Ein ausgeprägtes Helfersyndrom ließ mir keine andere Wahl. Sogar das Stricken betrieb ich süchtig: stunden- und tagelang, ein Pullover nach dem anderen und die Wolle für den nächsten lag schon bereit. Stricken war wie eine Meditation, ich verbannte alle meine Gedanken.

Die Prägung durch die Kindheit ist ein Teil meines Erbes, das ich nicht einfach verdrängen kann. Jahrelang habe ich gedeckelt, irgendwann lief der Topf über. Ich habe mich den Verletzungen gestellt, mit anderen darüber gesprochen, mir Hilfe geholt und gelernt, mit meinen negativen Erlebnissen zu bestehen. (Darüber berichte ich in meinem Depressionsbericht)

Eine Verletzung der Seele lässt sich nicht einfach ausradieren, sie ist und bleibt ein Teil von mir. Ich finde, dass es jedes Mal, wenn ich mit einem vertrauenswürdigen Menschen darüber spreche, ein bisschen weniger weh tut.

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