Patti (69): „Ich sass auf dem Sofa wie festbetoniert“

Nach sechs Monaten Langzeittherapie in einer Suchtklinik und 50 Stunden Psychotherapie glaubte ich, meine Alkoholabhängigkeit, Depressionen und Ängste hinter mir gelassen zu haben. Das war ein großer Irrtum. Denn nach all den Therapien ging es mir zunehmend schlechter – und das, obwohl ich seit fast zwei Jahren trocken war. Immer wieder wurde mir gesagt, dass meine Depression vom Trinken kommt. Heute weiß ich, dass ich den Alkohol als Medikament eingesetzt habe, um die Depression aushalten zu können. Nun zog ich mich wieder mehr und mehr in mich zurück, unternahm immer weniger, bis irgendwann nichts mehr ging.

Ich schleppte mich zur Arbeit, kämpfte mich durch mein Tagespensum, aber wenn ich im Bus saß, konnte ich die Tränen nicht zurückhalten. Zu Hause war ich dann meinem Gedankenkarussell ausgeliefert und schaffte nichts im Haushalt. Ich wurde krankgeschrieben und verbrachte nun die Tage allein in meiner Wohnung. Ich flüchtete in mein Bett, Decke über den Kopf und schlafen. Natürlich funktionierte das nicht, meine Gedanken zermarterten mein Gehirn. Ich war mir selbst die größte Feindin und Kritikerin, konnte nicht akzeptieren, dass ich nicht funktionierte. Nur wenn es unbedingt notwendig war, ging ich aus dem Haus.

Ich saß auf dem Sofa wie festbetoniert. Aufzustehen und in die Küche zu gehen, um mir einen Tee zu kochen, war ein Kraftakt. Meistens ließ ich das Telefon unbeantwortet klingeln oder legte den Hörer daneben; ich hatte nichts mehr zu erzählen.

„Ich schämte mich wegen meiner Schwäche und hasste mich dafür“

Ich stand unter einem enormen Druck, machte mir permanent Vorwürfe, schämte mich wegen meiner Schwäche und hasste mich dafür. Ich kam mir absolut minderwertig vor, traute mir nichts mehr zu und konnte mich auf nichts konzentrieren. Ich war wie erstarrt, mein Zustand war vergleichbar mit dem Totstellreflex mancher Tiere. Meine Feinde waren meine Gefühle, meine Ängste und der ungeheure Druck, den ich selbst auf mich ausübte. Ständig hatte ich das drohende Gefühl im Hinterkopf, es könne gleich etwas Schreckliches passieren – was das sein könnte, wusste ich nicht.

Ich ernährte mich nur notdürftig, nahm mir immer wieder vor, etwas zu kochen, schaffte es aber nicht und musste verdorbene Lebensmittel wegwerfen. Ich vernachlässigte meine Wohnung. Zum Mülleimer zu gehen, war eine riesige Überwindung. Ich horchte ins Treppenhaus, weil ich Angst hatte, Nachbarn zu begegnen.

Nach außen hin wahrte ich den Schein und versuchte meinen katastrophalen Seelenzustand zu verbergen, ich wollte nicht immer klagen. Eine Freundin durchschaute meine Fassade, rief mich immer wieder an und versuchte, mich zu Aktivitäten zu motivieren. Sie sorgte und bemühte sich um mich. Ich wollte nicht undankbar sein und tat ihr den Gefallen, zwang mich, mit ihr in ein Eiscafé zu gehen. Es war für mich eine ungeheure Kraftanstrengung, und anschließend war ich völlig erschöpft und froh, wieder allein zu sein.

Ich saß so tief im Keller meiner unterdrückten Gefühle, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass dieser Zustand jemals enden könnte. Ich dachte über Möglichkeiten der Selbsttötung nach, wollte irgendwohin unbemerkt verschwinden, um meiner Familie und meinen Freund*Innen Selbstvorwürfe zu ersparen.

In dieser grauenvollen Zeit vergaß ich glücklicherweise nie, wohin mich zuvor der Alkohol getrieben hatte. Ihn zur Entspannung einzusetzen, hätte bedeutet, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben.

Etwa ein Jahr nach Ende meiner Psychotherapie ging dann nichts mehr, und ich suchte Hilfe in der Notfallambulanz der Psychiatrie. Mit der Diagnose Depression und Ängste wurde ich umgehend in eine verhaltenstherapeutische Tagesklinik aufgenommen. Hier verbrachte ich zehn Wochen mit intensiver Arbeit an vielen meiner Baustellen und bekam wertvolles Werkzeug an die Hand, um mit meiner Erkrankung leben zu können. Aufgrund körperlicher und seelischer Erkrankungen ging ich für zwei Jahre in die Erwerbsunfähigkeit, diese wurde anschließend bis zum Rentenalter verlängert.

Mir wurde klar, dass ich seit dem Kindesalter unter depressiven Episoden litt, ich hatte soziale Ängste und eine Gewaltphobie entwickelt. Um das herauszufinden, war es notwendig, auf meine Kindheit zu schauen, die von Gewalt dominiert war und in der ich von einem meiner Brüder sexuell missbraucht wurde. (Über meine Kindheit berichte ich hier)

Heute habe ich meine psychischen Erkrankungen akzeptiert. Ich erlebe immer mal wieder depressive Episoden, Ängste und Panik, manchmal ausgelöst durch Konflikte oder Überforderung, manchmal ohne dass ich einen Grund benennen kann.

„Heute hüte ich mich vor der Perfektionismus-Falle“

Da ich selbst meine heftigste Kritikerin bin, bemühe mich um eine positive Selbsteinschätzung, konzentriere mich auf meine Stärken und auf die Sachen, die ich gut kann. Statt mich niederzumachen, lobe ich mich immer wieder, auch für kleinste Dinge. Ich hüte mich vor der Perfektionismus-Falle und verlange nicht zu viel von mir. Wenn es geht, meide ich Menschen und Situationen, die mir nicht guttun. Das alles hilft sehr und ermöglicht mir ein reiches, kreatives und zufriedenes Leben mit vielen glücklichen Momenten.

Nach mehreren Versuchen, auf Psychopharmaka zu verzichten, habe ich mich dafür entschieden, sie weiterhin einzunehmen. Seelischer Notzustand hat auch körperliche Nebenwirkungen!

Sehr geholfen hat mir in all den Jahren mein Engagement in der Suchtselbsthilfe. Ich wurde Guttemplerin, ich nahm an einem Suchthelfer*innen-Lehrgang teil und gründete eine Frauen-Selbsthilfegruppe für betroffene und angehörige Frauen, die ich zehn Jahre lang leitete.

Die intensiven und offenen Gespräche jede Woche, das Vertrauen und die gegenseitige Akzeptanz gaben mir das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Wir haben gemeinsam geweint und gelacht. Nach einigen Jahren trat ich beim Frauenbund ein, weil ich das auf Grund meines Engagements für Frauen folgerichtig fand. Wir verbringen einen Teil unserer Freizeit gemeinsam, und ich organisiere Wochenendseminare zu verschiedensten Themen. Wertvolle feste Freundschaften sind gewachsen. Es ist für mich sehr angenehm, dass unsere Aktivitäten im alkoholfreien Rahmen stattfinden.

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