Patti (68): Selige Zustände – und krasse Abstürze

 

Schon früh hatte der Alkohol seine Wirkung auf mich: Ich muss ungefähr sechs Jahre alt gewesen sein, als nach einer Feier meine Eltern die Gäste an die Tür brachten und ich in diesem unbeobachteten Moment flugs alle Reste aus den Gläsern geext habe. Meine Eltern fanden mich in seligem Zustand – und dieses Ereignis wurde oft als lustige Anekdote erzählt.

Einige Jahre später entdeckte ich in der Speisekammer eine Flasche der Sektmarke „Schloss Königstein“. Erst beim dritten Schluck bemerkte ich, dass meine Mutter Essig darin aufbewahrte – und mir ging es fürchterlich schlecht. Ich konnte nicht in die Schule, den Grund dafür behielt ich eisern für mich. Ich habe es geliebt, Eierlikörgläser auszulecken.

Als eine Tante meine Eltern für einige Wochen vertrat, das war ich ungefähr zwölf, entdeckte sie in der Abseite meines Zimmers mein Versteck. Sie war schockiert, dort Weinflaschen, Zigaretten, Kerzen und einen Nachttopf zu finden. Hier hatte ich einen Schlupfwinkel für mich allein geschaffen – und ich erinnere mich an den seligen Zustand, in den mich der Wein versetzt hatte. Das Reetdach hatte ich glücklicherweise durch das Rauchen nicht in Brand gesetzt. Selbstverständlich empfand ich die Entdeckung meiner Dunkelkammer hochnot-peinlich. Die Konsequenzen waren hart.

Im Alter von 14 bis 16 Jahren hütete ich oft abends die Kinder meiner Geschwister. In ihren Haushalten gab es üppig bestückte Hausbars; das war damals neu und total in. Diese bunte Vielfalt zog mich magisch an und lud mich zum Durchprobieren ein. Ich liebte diesen seligen Zustand. War es zu auffällig, füllte ich mit Wasser auf. Ich kann mich nicht erinnern, dass es Folgen hatte.

 

Die wilde Hippie- und Drogenzeit

Nach zwei Jahren im Nonnen-Internat hatte ich meine erste kleine Wohnung in einer Studentenstadt. Mit 18 – nebenbei bemerkt: das war 1968 – machte ich meine ersten Erfahrungen mit Marihuana. Richtig los ging es mit 20, als ich meine lupendicke Brille gegen Kontaktlinsen tauschte und dadurch die starken Minderwertigkeitskomplexe reduzierte.

Ich trank mit Alkohol meine Hemmungen weg und stieg voll in die Studentenszene der Stadt ein: Vietnam-Demos, Janis Joplin, Jimi Hendrix, Rolling Stones, Hippies, Hare Krishna: Alles, was anders als im Elternhaus war und von dem ich wusste, meine Eltern würden es missbilligen, war mir gerade recht. Nach der Enge und der Strenge im Elternhaus und im Internat trug ich fortan ausschließlich schwarze Kleidung, kappte die Verbindung zu meinen Eltern, vergnügte mich jeden Abend beim Tanzen bis zum Umfallen ausgiebig unter Zuhilfenahme von Cannabis, AN1, Captagon, Alkohol, auch in Verbindung mit Schlaftabletten. Alles, was knallte, war klasse.

Eine berufsbedingte Hepatitis B drehte mir im Alter von 25 Jahren abrupt den Hahn ab. Ich war lange Zeit im Krankenhaus und lebte danach ein halbes Jahr abstinent. Wieder genesen war ich schnell bei meiner alten Gewohnheit, besonders viel habe ich an den Wochenenden getrunken, nicht selten bis zum Filmriss. Morgens wusste ich oft nicht mehr, in welchen Kneipen ich am Abend zuvor war und wie ich nach Hause gekommen war. Mit wem, das sah ich ja dann im nüchternen Zustand.

Ich habe in dieser Zeit getrunken, um keine Hemmungen zu haben, um ausgelassen zu sein. Wir haben viel Spaß gehabt, wenn man mal von meinen dramatischen Liebesbeziehungen absieht. Sorgen habe ich mir damals keine gemacht.

 

„Plötzlich war das Trinken gar nicht mehr lustig ...“

Berufsbedingt zog ich mit 31 Jahren in eine Stadt im Ruhrgebiet. Dort kannte ich außer meinem Chef keine Menschenseele, fand keinen Zugang zur dortigen Szene und trank allein zu Hause. Nach einem Jahr wechselte ich wieder die Stadt – irgendwie hatte sich mein Leben grundsätzlich verändert. Die Dauerparty war endgültig ausgefeiert, Sturm und Drang vorbei, wieder ging eine Beziehung in die Brüche, die Menschen an meinem Arbeitsplatz fand ich unheimlich konservativ.

Die neue Arbeit war stressig, ich fühlte mich fremd und ich vermisste meine alte Clique. Abends allein trank ich, um zur Ruhe zu kommen, das Kopfkarussell auszuschalten. Tagsüber arbeitete ich für Zwei und war immer bereit, Überstunden zu machen. Irgendwie musste ich mir ja beweisen, dass ich trotz des Alkoholproblems funktionierte. Das Trinken war inzwischen gar nicht mehr lustig, es hatte sich verselbstständigt. Ich trank zwar selten so exzessiv wie früher, dafür wurde mir immer bewusster, dass ich keinen Abend ohne Alkohol sein konnte.

Ein Jahr lebte ein Neffe bei mir. Er war in die Drogenszene abgerutscht und ich unterstützte ihn bei seinem Ausstieg. Ich selbst versteckte meinen Wein in der Zeit vor ihm auf dem Balkon zwischen den Blumen und trank, wenn er in seinem Zimmer war. Mein Lieblingsbruder starb und wenige Jahre später meine Mutter, zu der ich, inzwischen wieder, eine sehr enge Bindung hatte. Ich kam aus der Traurigkeit nicht mehr heraus, oft liefen einfach die Tränen, wenn ich im Bus saß. Lesen konnte ich schon lange nicht mehr, meine Kreativität war verschüttet und mir fiel einfach keine andere Lösung ein, als mich mit Wein auszuschalten. Immer wieder nahm ich mir vor, einen Abend nicht zu trinken, aber ich schaffte es nie. Ich geriet in Panik, wenn ich nicht genug Vorrat zu Hause hatte!

 

„Ich habe mich gehasst und oft an Selbstmord gedacht.“

So ging das viele Jahre, und je mehr mir bewusst wurde, dass ich an der Flasche hing, desto heimlicher trank ich. War ich mit Kollegen mal zum Essen, trank ich Wasser und zwar so, dass es jeder mitbekam. Trotzdem glaubte ich, dass man es mir ansieht, traute mich kaum durch den Hausflur in der Angst, jemandem zu begegnen. Beim Einkaufen wechselte ich die Geschäfte, kaufte Zusatzartikel, die ich nicht brauchte. Kam ich abends nach Hause, sah ich tausend Augen hinter den Fenstern meiner Nachbarn. Ich verwendete meine ganze Kraft darauf, meine Abhängigkeit zu verstecken. Morgens und an den Wochenenden, die ganz dem Alkohol gewidmet waren, ging es mir entsetzlich schlecht. Ich hatte wahnsinnige Kopfschmerzen und musste mich wieder und wieder übergeben, bis ich wieder trank. Zu Hause schaffte ich nur das Nötigste, alles strengte mich wahnsinnig an, ich wollte nichts mehr unternehmen, ich fühlte mich so elend einsam.

Bei der Arbeit funktionierte ich noch gut, musste mir das durch Vielarbeit ständig beweisen, bis ich 1999 feststellte, dass ich Fehler machte und ich mit der Dokumentation meiner Versuche nicht mehr nachkam. Ich hatte so eine wahnsinnige Angst davor, mein Gesicht zu verlieren, ich habe mich abgrundtief geschämt und gehasst, weil ich so schwach war, und dann ging nichts mehr. Oft habe ich über einen Selbstmord nachgedacht.

 

Ausstieg mit fremder Hilfe

Aus eigener Kraft schaffte ich den Absprung nicht. Aber ich wollte es wenigstens versuchen – mit fremder Hilfe. Ich ging zu meinem Hausarzt und schaffte die „Beichte“. Er schrieb mich krank, schickte mich in die Suchtambulanz einer Klinik. Aus Panik vor der Peinlichkeit einer stationären Entgiftung hörte ich abrupt auf zu trinken. Heute weiß ich, dass es sehr gefährlich ist, wenn man das nicht unter ärztlicher Aufsicht tut. Es kann zu Krämpfen kommen, die ein sofortiges ärztliches Eingreifen erfordern. Ich hatte Glück.

Ich bekam umgehend einen Platz in einer Tagesklinik. Der Umgang mit Patienten und Therapeuten haben mich anfangs viel Kraft gekostet, oft war ich nass geschwitzt. Nach zehn Wochen wurde ich entlassen. Mein Hausarzt schrieb mich weiter krank, und nach fünf Wochen Wartezeit wurde meine Langzeittherapie bewilligt. Ich verschwand für ein halbes Jahr in der Suchtklinik. Auch hier fand ich es sehr anstrengend, hatte große Schwierigkeiten im Umgang mit den Mitpatienten. Ich war eine Einzelgängerin und wenn möglich, zog ich mich zurück, machte lange Spaziergänge am Schweriner See.

 

Mein erster Gang in eine Selbsthilfegruppe

Die Therapie half mir, trocken zu bleiben – und das seit nunmehr 19 Jahren. Dass ich 50 Stunden einer Psychotherapie bewilligt bekam und diese direkt nach der Langzeittherapie antreten konnte, war gut geplant.

Der erste Weg in eine Selbsthilfegruppe ist mir allerdings unheimlich schwergefallen. Als ich in die Straße einbog, in der sich der Treffpunkt der Selbsthilfegruppe befand, war ich überzeugt, jeder sieht es mir an, dass ich dorthin gehe. Aber auch hier machte ich, wie bereits in der Therapie die Erfahrung, das gegenseitiges Verständnis sehr entlastend ist.

Mein Engagement und die Gründung einer Selbsthilfegruppe für Frauen halfen mir, trocken zu bleiben.

Ich hatte die Möglichkeit, eine Ausbildung zur Suchthelferin zu machen und gründete 2007 eine Selbsthilfegruppe für betroffene und angehörige Frauen, für die ich zehn Jahre lang verantwortlich war. Diese Mischung erwies sich als hilfreich für beide Gruppen – man verstand die andere Seite und das funktionierte in unserer Frauengruppe ohne Aggressionen und Stress. Trotz oder gerade wegen all der schweren Schicksale, die mir während meiner ehrenamtlichen Tätigkeit begegnet sind, fand ich es immer wichtig, die Gruppe mit Humor zu beenden.

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